Texte BREGER & BROCK
Begegnungen zwischen Basel und New York
Emanzipation von Fatum und Faktum
Ich war seit einem halben Jahr in der Stadt, als Carl Laszlo einen Emissär schickte und mich einlud, ihn zu besuchen. Schon bald begegneten wir uns: der Holocaust-Überlebende Jahrgang 1923 und ich, ein blonder Deutscher Jahrgang 1941, der zur Zeit der Deportation der Familie Laszlo bereits Kriegswaise war.
Das Äussere seines stattlichen Hauses am Sonnenweg mit den zur Strasse hin stets verschlossenen Fensterläden machte einen geheimnisumwitterten Eindruck, das Innere glich einer auf allen Etagen reich bestückten Wunderkammer. Im Salon im ersten Stock gab es Mokka und Haschisch, und so beschnupperten wir uns. Carl interessierten insbesondere Gysin und Burroughs, Autoren meiner Göttinger Expanded Media Editions; doch brachte er auch sein Buch „Ferien am Waldsee“ zur Sprache und damit ein Thema, welches sich in unserer rasch sich entwickelnden intensiven Beziehung viel Raum einnehmen sollte. Ich kannte bis dahin nur Alain Resnais‘ Dokumentation „Nacht und Nebel“, mit der man uns als Schüler ohne Sensibilisierung seitens der Lehrer konfrontierte, was strikte Ablehnung förderte.
Schon bald entwickelte Carl dann die Idee einer Neuauflage seines „Waldsees“, erweitert um ein Gespräch, welches er mit mir zu führen gedachte. Ich wusste, dass kein Tag verging, ohne dass er an Auschwitz dachte; es leuchtete ein, dass die gesprächsweise Benennung des Erlebten Erleichterung verschaffen mochte. Gleichwohl fühlte ich mich weder berufen noch befähigt, mitzuwirken. Doch Carl liess nicht locker. Das Buch erschien 1981 mitsamt dem Beitrag „35 Jahre danach“.
Im selben Jahr besuchten wir New York. Zum Abschied schlug meine Gastgeberin vor, ich solle Freunde zu einem Essen einladen. Schliesslich sassen wir, gut die Hälfte Gojim, um ihren runden Tisch: ein Filmemacher, eine Verlegerin, ein paar Literaten. Irgendwann wurde das Thema Holocaust gestreift. Ich erinnere mich, wie ich als einziger Deutscher äusserte, meinen Teil Vergangenheitsbewältigung könne ich unterdessen abhaken. Carl hatte das mitbekommen und rief: Falsch gedacht, Udo, das geht jetzt erst richtig los! Mir blieb die Spucke weg. Doch sollte er recht behalten.
Gut zwanzig Jahre später taten eine Historikerin mit dem Forschungsschwerpunkt Holocaust und ich uns zusammen.
Seither verging kein Wochenende, an dem wir das damit einhergehende Unsägliche nicht thematisierten. Fachliteratur kam hinzu; die neuneinhalb Stunden Lanzmann erstmals in diesem Frühjahr, 2023. Eine Erkenntnis: Je mehr man erfuhr, desto weniger schien man zu begreifen. Was die andauernde Beschäftigung mit dem Thema auf Dauer mit einem macht, bleibt nach wie vor abzuwarten.
UDO BREGER Basel, Anfang Juli 2023
Niemandes Leben und Wirken hat mir je den Gedanken nahegebracht, die älteste und zweifelhafteste Kennzeichnung weltwirksamer Kräfte als Schicksal ernst zu nehmen - wieder in Betracht zu ziehen.
Niemand außer Carl Laszlo.
Der Anlass war einer unter vielen Nachmittagen, an denen wir zur Kirschenfängerei ins Baseler Umland auszogen. Ich warf eine später weltberühmt gewordene italienisch-schweizerische Filmregisseurin aus dem Stand in die Kirschbaumkronen, aus denen sie mit der Hand voll Früchten in meine Arme zurückfiel. Laszlo, Fenkart und Entourage drückten mit ihren vitalen Leibern das Gras platt, weil alle im Horizontalballett mit ihren Extremitäten nach den von der Kirschfängerin ausgestreuten Früchten zu greifen versuchten.
Mitten ins Geschiebe der Leiber fragte Laszlo nach anderen Formen der Haufenbildung der Menschengestalt. Die Frage genügte, um sofort in einen anderen Zustand zu wechseln. Niemand verwies auf die von Laszlo offenbar angesprochenen analogen Schichtungen. Ansatzlos zitierte er Naphta aus dem Zauberberg mit dem Satzfragment: „Das erst ist die wahre Emanzipation des Geistes von Fatum und Faktum!“ Gemeint war bei Naphta das „schrecklich Gute“ einer spätgotischen Pietà-Skulptur, mit deren Verehrung das fromme Europa sich jahrhundertelang einverstanden erklären konnte – einverstanden mit der schicksalhaften Erfüllung dessen, was geschrieben steht. Der Name für das, was geschrieben steht, heißt eben Ananke oder Fatum oder Schicksal. Naphta pries die Emanzipation von der blinden Macht des Weltlaufs durch Behuldigung des „Terrors“.
Was hatte uns Laszlo damit nahelegen wollen? Emanzipation von totalitärer Absolutheit durch Willkür, Spontanität, Bedingungslosigkeit? Zum Beispiel, wie sie Künstler aufbringen gegen die Zwangslogiken der Vollendung? Wir waren doch als Schüler darauf verwiesen worden, gerade die nationalsozialistische Ideologie als Terror zu erkennen, und sollten von Laszlo gesagt bekommen, dass der NS-Totalitarismus nur eine Zwangsläufigkeit rationaler Rechtfertigung von Macht gewesen sei?
Meinte Laszlo den Tugendterror der Selbstgerechten, die sich als Vollzugsbeamte von Schicksalhaftigkeit verstehen? Emanzipation also von jeglicher Akzeptanz des Schicksals
durch künstlerischen Mutwillen? Dada gegen Systemlogiken?
Ich murmelte meinen Zweifel in die Runde, was Laszlo mit dem für ihn üblichen Gestus der Nächstenliebe „Ach liebes Kind...“ konterkarierte.
BAZON BROCK Berlin, den 22. April 2024